Barth: Vineta lebt!

 

Wasserstandsmeldungen aus einer niemals untergehenden Stadt

 

 

 

Juni 2019 

 

Manchmal nur klingt, klingt es ganz leis, ruft Glockengeläut von unten herauf.

 

 

Es sind die Vineta-Glocken. Die Glocken einer versunkenen Stadt im Meer.

 

Es heißt, wenn sie am Johannistag läuten, dann sollte man nicht in ihrer Nähe sein, sonst würde derjenige unweigerlich angelockt und muss mit in die Tiefe.

 

Nein, so ein Fall ist in und um Barth noch nicht bekannt. Statt dessen läuten die Glocken der Barther St. Marien Kirche gegen das Unheil an.  Die Glocken der Kirche klingen weit hinaus über den Bodden bis hin zur Halbinsel Fischland-Darß-Zingst und vielleicht auch darüber hinaus auf die Ostsee. Sie verkünden weithin den Stolz der Stadt.

 

Die legendäre Stadt Vineta, bekannt in Europa durch ihren unermesslichen Reichtum, versank in einer dramatischen Novembernacht nach einer Sturmflut.  Stolz und Überhebung hatten ihre Einwohner, die mit allen Völkern der Erde Handel trieben und ihre Schiffe aus allen Teilen der Welt die schönsten und kostbarsten Waren brachten, ins Verderben gestürzt. So erzählt es die Vineta-Sage.

 

 

Warum nur nennt sich gerade Barth „Vineta-Stadt“?

 

 

Lange galt die hochmittelalterliche Frühstadt an drei verschiedenen Orten vor Usedom untergegangen zu sein. 1999 brachten zwei Berliner Wissenschaftler Barth und die davor gelagerten Boddengewässer ins Spiel. Schnell  ließ sich der damalige Bürgermeister den Begriff „Vineta-Stadt“ Barth patentieren. Die vorpommersche Landesbühne Anklam veranstaltete lange Zeit neben Zinnowitz in Barth ein weiteres Vineta-Spektakel.  Barth hat jetzt ein „Vineta-Museum“, „Vineta-Perlen“,  eine „Vineta-Arena“ eine Gaststätte namens „ Zum Vinetablick“, einen „Vineta-Döner“ und ... Dennoch öffnet nirgendwo ein gut betuchter Kaufmann in seinem kostbaren Gewand die Tür und auch der Vineta-Döner wird nicht in Blattgold serviert.

 

Wer als Fremder durch die Stadt geht, dem fällt ein Vineta-Style nicht wirklich ins Auge. Die Stadttore bestehen nicht aus Erz und die Glocken nicht aus Silber und auf den Straßen spielen keine Kinder mit Silbertalern. 

 

Wahrlich werden auf dem Markt keine Stoffballen, welche aus schimmerndem Samt, glänzendem Brokat, leuchtender Seide oder hauchdünner Spitze bestehen, angeboten.

 

Doch man sollte sich auch nicht von der Jogginghosen-Parade in der Langen Straße täuschen lassen. Der  Betrachter kann auf die Stadt Barth aus zwei verschiedenen Blickwinkeln betrachten, je nachdem, wie man diesem Ort zugetan ist.

 

Wer will, kann wirklich eine liebenswerte, einzigartige Stadt erkennen! Die wunderbare Lage direkt vor den Toren der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst ist Segen und Fluch zugleich. Im 19. Jahrhundert gehörte die Stadt mit ihren Werften zu einem bedeutenden Standort der Segelschifffahrt. Die Stadt war damals die zweitgrößte preußische Reedereistadt. Barther Kapitäne fuhren hinaus in die Welt. Als die Motorschiffe immer größer wurden, versank Barths goldene Zukunft im Boddensand. Ein Hinweis auf Vineta?

 

 

Barth war einst Fürstensitz und hier wurden mit die ersten Bibeln gedruckt. Noch heute ist ein Exemplar aus dem 16. Jh. im Bibelzentrum zu sehen. Ein Haus, gebaut um ein Buch! Ein sehenswertes Haus mit überregionaler Bedeutung. Auch für religionsferne Interessenten sehr zu empfehlen. Wer in der St. Marien Kirche die Sammlung historischer Bücher entdeckt, dem wird die Bedeutung der Stadt immer bewusster

 

Im 8500-Einwohner Ort  sind 80 Vereine registriert. Und da wundert man sich, wenn abends die Straßen leer sind? Die Barther Sportler schwingen sich immer wieder zu Höchstleistungen auf,  auch wenn sie hin und wieder über eine Delle im Kunstrasen stolpern, der Kalk von der Decke bei manchen Kraftakten und Torjubel rieselt.  Das Kinderfest wird bald 200 Jahre alt und hat sich zum immateriellen Kulturerbe empor gefeiert.

 

Barth hat wohl den einzigen Flugplatz in der Größenordnung, der rentabel ist. Dank Sonnenkollektoren und Schafsherde. Wer vermutet schon ein Theater in dieser Kleinstadt? Die Barther Boddenbühne ist eine Außenspielstätte der Vorpommerschen Landesbühne aus Anklam, kann aber mit dem Amateur-Ensemble viele eigene erfolgreiche Produktionen auf die Beine stellen. Das Barther Theater ist auch eine Frucht aus dem Vineta-Nektar.

 

 

Aber reicht das, um Barth auf ein Podest mit dem glorreichen Vineta zu heben?

 

 

Und ist dieses versunkene Schicksal  durch „Stolz und Überhebung“ nicht eher unangenehm für eine touristische Vermarktung?

 

 

Die Sage von der versunkenen Stadt ist nun über Tausend Jahre alt. „Stille Post“-Spieler wissen, wie sich Nachrichten über Zeit und Übermittler verändern können. Sicher, dass niemand die Warnung ernst nahm und die Stadt nicht vorher verließ? Sicher, dass die ganze Stadt komplett versunken ist? Vielleicht wurde ja doch ein Stadtteil verschont? Ein Stadtteil, der emsigen, fleißigen und bescheidenen Bürger. Barth und seine jetzigen Einwohner als Vermächtnisverwalter der untergegangen Glitzerstadt? Sicher, ein kühner Gedanke zum Schmunzeln.

 

 

Doch Barth hatte im Laufe der Jahrhunderte Übung im Untergehen. Als die Fürsten in den Sonnenuntergang ritten, die Segelschifffahrt strandete, als 12 Jahre Deutsche Geschichte ein Trauertuch der Scham über die Stadt legte. Als nach der Wende 1990 ein Betrieb nach dem anderen dicht machte, die Menschen ihrer Lebensleistung beraubt und in die Arbeitslosigkeit geschickt wurden. Als die Jugend ging.

 

 

Barth ist niemals untergegangen. Die Glocken der Marien Kirche läuten hinaus über den Bodden mit Stolz und Würde und auch als Mahnung für manche. Vineta lebt.

 

 

Die Barther Stadt ist selbst der Schatz, den sich ihre Bürger geschaffen haben, den es auch mit Freude vorzuzeigen gilt. Vielleicht muss der eine oder andere Barther das noch üben. Sicher ist auf jeden Fall: Diese Stadt wird dennoch nicht in Saus und Braus untergehen!

 

 

Die Barther sind auf dem Weg, sie sind das, wohin sie gehen, was sie wollen und was sie im Gepäck haben. Jeder kann ihnen dabei zusehen, sich einreihen und mitgehen. Wer sich so fühlt, wie er sein will, wird eines Tages zu dem, was er sein wollte.

 

Vineta lebt! Wer möchte: in Barth fort! Wer dabei helfen will, der kommt in die Stadt, gibt einem Händler einen Groschen (oder viele Euro) und hilft dabei, das Vermächtnis zu erfüllen.

 

 

Dann läuten die Glocken der Marienkirche noch lange weit hinaus!

 

 

Frank Burger

 

 

 

Übrigens, auch das ist Barth: Der Hafen hat ein gut durchdachtes Hochwasser-Konzept. Nur Barths Lieblingswirt „Moppi“ mit seinem „Zum Vinetablick“ ist nicht mit eingebunden. Einmal stand ihm das Wasser schon bis in die Küche. Aber untergegangen ist auch er nicht …

 

 

Quellen:

 

Erster kursiver Satz: Puhdys, „Vineta“

 

Alle weiteren: „Vineta-Sage“, Homepage der Stadt Barth

 

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