Das „Haus der Möglichkeiten“ – lebendige Backsteinmauern

Wasserstandsmeldungen aus einer niemals untergehenden Stadt

 

Ist DAS Barth? Stolz steht das Backsteingebäude da. Salutiert von den Linden an der Vorderfront. Ein wenig trotzig scheint es das Unkraut und den Müll zu seinen Füßen zu ignorieren. Das Altstadtcenter auf der einen Seite, Vorgärten auf der anderen. Junge Mädchen sitzen auf dem Treppenabsatz an der Rückseite, lachen, haben Spaß. Autos fahren auf den Parkplatz. Menschen steigen aus, gehen in die Geschäfte. Von den Häusern auf der anderen Seite dringt Musik bis zu den roten Backsteinen. Das Gebäude würde seufzen, wenn es könnte. Doch es ist still. Leben? Es ist, als ob sich das Leben langsam aus der Friedrich Adolph Wilhelm Diesterweg-Schule aushaucht.

 

„Ist das Barth?“, fragte ein Redakteur der Ostsee-Zeitung vor gut einem Jahr auf einer der letzten Veranstaltungen in der Aula der Schule. Alle Bürgermeisterkandidaten   verneinten. Das sei nicht Barth. Jedenfalls könne man Barth nicht mit dem derzeitigen traurigen Zustand der Schule gleichsetzen. Niemand hatte den Mut: „Ja,“ zu sagen, „das ist auch Barth.“

 

Hätten sie doch alle einmal die Hand auf eine der Backsteinmauern gelegt. Das Leben der Schule wäre vor ihren Augen erwacht.

 

Haben sich die Jungs nach den Osterferien 1899 gefreut, endlich eine eigene Schule zu haben? Weg von den Mädchen? Sind sie jubelnd in die neue Knaben-Volksschule gerannt? Oder doch wohlgeordnet – geführt von einem strengen Lehrer?  In die frisch gebaute Schule am Bleicherwall zog Leben ein. So viel Leben, dass nach wenigen Jahren die Aula als zusätzliches Klassenzimmer genutzt werden musste.

 

Wer seine Hand an die Backsteinmauern legt, der sieht Generationen von Barther Kindern mit Schulranzen auf den Rücken morgens im Dunkeln die Treppe hinauf zur Schule steigen, der sieht sie in den Bänken sitzen und mit dem Füllfederhalter krampfhaft um Schönschrift ringen, der sieht sie jubelnd die Treppen hinabstürmen – endlich Schulschluss!

 

Da gehen zwei Frauen ein wenig ängstlich in die Schule. Sie sollen sich beim Rektor Lehmann melden. Hanna und Inge sind „weibliche Hilfskräfte“. Der 1. Weltkrieg tobt. Einige Lehrer, die an die Front mussten, sind gefallen. Wie Lehrer Brinkert. Andere sind verschollen. Es fehlt an männlichen Pädagogen. Weibliche Hilfskräfte betraten erstmals die Knaben-Volksschule. Wie schwer hatten sie es? Sie blieben Hilfskräfte. Auch die Weimarer Republik und die Nationalsozilisten trennten Mädchen von Jungen. Es war außerdem auch kaum vorstellbar, dass eine Frau Jungen unterrichtet.  Kämpften die Lehrer mit der Ideologie der braunen Uniformträger? Waren sie etwa begeistert?

 

Ich will meine Hand von den Backsteinen nehmen. Manchmal sind die Bilder, die zu mir fließen, nicht aushaltbar. In der ehemaligen Hausmeisterwohnung hält der Förderverein Dokumentations- und Begegnungsstätte Barth mit der Ausstellung "12 von 750 Jahren – Barth im Nationalsozialismus 1933 - 1945" trotzig gegen das Vergessen stand. Zwischen Carneval-Club und leerem Schulgebäude. Ja, auch das ist Barth.

 

Es ist fast vorbei. 1945.  Mitten in der Nacht zum 19. Januar schleichen völlig entkräftete Gestalten mit Rucksäcken, Koffern, mit großen Taschen und kleinen Kinder auf dem Arm in die wenige Stunden zuvor leer geräumte Schule.  Es wurde Platz für Flüchtlinge aus dem Osten gebraucht. Der Schulbetrieb ist eingestellt. Ende Mai ist das Gebäude wieder frei.

 

Ich presse meine Hand kräftig an den Backstein und schließe die Augen. Ich gehe durch das leere Gebäude. „Ganze Schränke mit Inhalt verbrannt! Stühle und Tische waren nicht mehr vorhanden, und Mäuse bevölkerten das ganze Schulhaus.“ 

 

So sieht also der Neubeginn aus.

 

Kosaken besichtigen das Schulhaus.

 

Noch einmal Flüchtlinge.

 

Die Rote Armee in der Turnhalle. Neueröffnung am 1. Oktober 1945. Doch die Jungen frieren. Ohne Feuerung kein Wärme.

 

Die neue Zeit zieht in die Schule ein. Mit neuen jungen Lehrern, mit einem Roggenbrötchen und einem ¼ Liter Milch als „Schulspeisung“. Anne Neumann geht an mir vorbei. Sie holt das Roggenbrötchen für ihren erkrankten Sohn Jochen ab.

 

Kinder, Kinder, Kinder. Ein Haus voller Kinder. 1947 wurden 28 Klassen mit 1110 Schülern in der Schule unterrichtet. Jungen und Mädchen. Wie sich das wohl angefühlt hat? Wie sich das wohl angefühlt hat, als in der Küche im Keller erstmals warmes Schulessen gekocht wurde?  Wie es sich wohl angefühlt hat, als die Schule den Namen F.W.A. Diesterweg erhielt?  Die ersten Pioniere mit den blauen Halstüchern sitzen in den Schulbänken. Die Schule wird Mittel-Schule und hat jetzt eine 9. Klasse. Der “Tag der Produktion“ wird eingeführt. Der Sozialismus ist eingezogen in das ehrwürdige Gebäude. Generationen von Barthern lernen hier lesen und schreiben, singen Lieder, verzweifeln an Mathe, kritzeln zu viele Rechtschreibfehler und begreifen hier, das Mädchen nicht doof und Jungen nicht blöd sein müssen. Sie strecken ihrer späteren großen Liebe die Zunge raus, streifen FDJ-Hemden über.

 

 

1984. Diesterwegfeier  und Tag der Zeugnisausgabe in der HOG „Burg“. Herr Kruse enthüllt stolz das für 900 Mark selbstangefertigte Porträt von Friedrich Adolph Diesterweg. Er ist ein wenig aufgeregt. Als vormaliger Leiter der Dekorationsabteilung der HO hat er in seiner Ausbildung auch malen gelernt. Doch ob das Bild den Lehrern und Schülern gefallen wird? Beifall brandet auf. Zustimmendes Nicken im Lehrerkollegium. Herr Kruse lächelt erleichtert. Drei Jahre hat er an diesem Bild gearbeitet.

 

Das ist Barth. Diese Schule ist Barth. Dieses Gebäude ist Barth.

 

Ich halte noch einmal meine Hand an die Backsteinmauer und an mir läuft der gerade eingeschulte Mario vorbei. Später wird er einmal eine Ausstellung über seine Schule organisieren und Vorsitzender des Heimatvereins werden. Er wird in der verlassenen Schule ein Büro des Heimatvereins gestalten. Sehr liebe- und geschmackvoll und mit vielen Bildern von sich mit der Bundeskanzlerin Angela Merkel an der Wand.

 

 

1991 wird die Schule geschlossen. Die Schülerzahlen sind immens zurückgegangen. Das Haus muss saniert werden. Nein, kein Geld da. Anderes ist wichtiger. Die Schule atmet schwer. Noch einmal zieht Leben mit der Produktionsschule ein. Bis auch sie auszieht.  Konzepte in Richtung Vereinshaus wabern in den Diskussionsrunden halbgar umher.

 

Ein wenig wird probiert. Musik ertönt, der Heimatverein bastelt …

 

Ganz wichtig: das DOK-Zentrum und der Carneval-Club in friedlicher Koexistenz. Auch das ist Barth. Sonst ist Ruhe im „Haus der Möglichkeiten“. Das Unkraut wächst, der Müll bleibt liegen.

 

Die WOBAU Barth wollte das Haus Ende 2017 kaufen. Hat sie aber nicht. Es gäbe da noch baurechtlich ungeklärte Dinge. Reinhard Marx, der Geschäftsführer der WOBAU, des kommunalen Wohnungsunternehmens, steht mit einem riesengroßen Schlüsselbund vor mir. Wir gehen durch das Haus und er zeigt mir Raum für Raum und erzählt dazu seine Pläne.

 

 

Welch ein Gewimmel in der sanierten Diesterweg-Schule. Gleich rechts im Internetcafé sitzen Jugendliche.  Bewegung ist auch auf der anderen Seite. Die WOBAU-Mitarbeiter von „Barth Apart“ geben sich die Klinke in die Hand. Die Kreisvolkshochschule bereitet in der 1. Etage  einen Fotokurs für den Abend vor. Die Mitarbeiterin kämpft noch mit der Beamer-Technik.  Zwei junge Mädchen mit Geigenkoffern gehen die Treppe hinauf. Die Musikschule hat dort zwei Räume gemietet.  In der Aula wird ein großer Tisch vorbereitet. Hier soll am nächsten Tag eine Hochzeit ihre Feierlichkeiten begehen können. Der Buffetraum wird gerade gereinigt und aufgeräumt, denn der Caterer benötigt Platz. Es wird eine große Hochzeit.

 

 

Vielleicht ist ja auch der Heimatverein wieder in seinen Räumen. Mario Galepp hat eine geheime Botschaft hinterlassen: Die Nägel seiner Bilder sind noch in der Wand.

 

 

Ja, das ist Barth. Schwierige Geschichte. Lebendige Geschichte. Geschichte in Backstein eingeschlossen, doch jederzeit abrufbar. Die Gegenwart als schwere Geburt. Die Möglichkeiten aber groß und offen. Die Entwicklung von einer Knaben-Volksschule  zum „Haus der Möglichkeiten“.

 

 

Reinhard Marx lächelt: „Ende kommenden Jahres gehe ich in Rente.“ Dann schaut er sich nochmal in der leeren Aula um und legt jetzt auch seine Hand an eine Wand. „Ich würde das gern machen.“

 

 

Nach Redaktionsschluss dieses Blogs erreichte uns noch eine Depesche aus dem Rathaus: 

 

 Friedrich-Carl Hellwig (FCH): „Deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es der WOBAU möglich macht, die Diesterwegschule zu erwerben." 

 

Nachfrage der Redaktion: Ab wann gilt diese Regelung? 

 

FCH: „Das trifft nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vielen Dank an Reinhard Marx und Mario Galepp für ihre Zeit und ihre Informationen. Historische Bilder: Archiv Galepp.

 

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Kommentare: 3
  • #1

    Ute Rieck (Mittwoch, 02 Oktober 2019 20:49)

    1963-1973,eine schöne Zeit,mit tollen Lehrern,wenig Luxus,Pausenmilch im Keller und frisch gekochtem Essen,aus dem,jetzt abgerissenen Gebäude.Zusammenhalt ,Miteinander und füreinander da sein.Das war wichtig und hat viele Schülergenerationen geprägt.

  • #2

    Mario Galepp (Montag, 07 Oktober 2019 19:55)

    1981 eingeschult - schöne Zeit gehabt mit meinen Mitschülern. Die Lehrer hatten auch ihren "Spaß" mit mir. Lieblingsfach Geschichte bei Herrn Köstler.

  • #3

    Reinhard Marx (Montag, 21 Oktober 2019 17:37)

    Wir warten noch auf eine Änderung des Baulastenverzeichnisses durch den zuständigen Mitarbeiter beim Landkreis Vorpommern-Rügen, um dann endlich den Grundstückserwerb vornehmen zu können. Die Vorbereitungen für die Einrichtung eines Internetcafés laufen bereits. Wer Lust hat, sich an dem Projekt "Haus der Möglichkeiten" finanziell oder auch handwerklich zu beteiligen, kann sich schon jetzt gern bei mir melden.