Träume in Zeiten des abnehmenden Lichts

Wasserstandmeldungen aus einer niemals untergehenden Stadt

 

 

Es ist ganz dunkel. Kein Licht dringt ins Schlafzimmer. ER liegt friedlich im Bett. Sein Atem ist ruhig. Unter seinen geschlossenen Lidern tanzen jedoch die Augen. Immer schneller. 

 

Es ist ganz hell. Warmes Sonnenlicht überall. Mit weit aufgerissenen Augen steht ER da. ER sieht, wie etwas von weitem auf ihn zugeflogen kommt. Ein Mensch, eine Frau, eine Fee. Sie trägt ein langes weißes Kleid, hält einen langen, dünnen Stab in der Hand. Sie hat kurze blonde Haare und große Augen. Als sie vor ihm schwebend stoppt, lächelt sie ihn freundlich an. Ganz kurz zuckt die blonde Fee mit ihrem Stab und Feenstaub fällt auf ihn herab. „Ich schenke Dir ein Schloss“, haucht sie, zuckt wieder mit dem Stab. Erneut fällt Feenstaub auf ihn und die freundliche Fee  schwebt fort. „Geh!“, hört er nur noch. „Vorwärts immer, rückwärts nimmer“, hallt es noch. 

 

Ganz ungläubig, ganz vorsichtig geht ER vorwärts. Ein Politiker kommt ihm entgegen. Ganz eiflig zieht er Geldbündel aus der Jackentasche und schmeißt sie auf ihn. 500 000 €. Eine Million, fünf Millionen. Immer wieder greift er in seine Taschen und holt neue Geldscheine heraus, um sie in seine Richtung zu werfen. ER reagiert nicht. Zehn Millionen. ER geht weiter. ER lässt den Politiker einfach hinter sich, der verzweifelt inmitten eines Geldhaufens steht. 

 

Plötzlich hört er Vögel, eine Landschaft entsteht. Es sieht Bäume, Wiesen, Felder und Büsche. Ein Eichhörnchen springt einen Baum hoch. Er hört Wasser plätschern. Ein Fluss. Nein, es ist ein Graben. Er nimmt den Kopf hoch und sieht: das Schloss!!! 

 

Die Wasserburg Divitz aus dem Jahr 1860! Sprachlos steht ER da. Wärme erfüllt sein Herz. Sie war gefallen. Sie ist gerettet! Er geht durch den Park, muss überall staunen ob der Schönheit der Bäume, Pflanzen und Blumen. Da winkt ihm ein Mann zu.  „Vielen Dank“, ruft der Gärtner. Es ist Gustav Meyer, der den Landschaftsgarten einst zum Blühen brachte.  ER geht durch ein kleines, aber prächtiges Tor auf den Hof der Wasserburg. 

Was für ein Gewusel! Inmitten einer Menschentraube ragt ein Dutt heraus: „Sie können natürlich die kulturwissenschaftlichen Seminare, die Gesundheitsworkshops und alle anderen Angebote in Barth buchen. Ich empfehle Ihnen auch den Radwanderweg Barth-Divitz. Sie erleben eine einzigartige Natur“.  Zustimmendes Nicken rund um den Dutt. Ein freundlicher Mann mit Knopfaugen läuft mit einem Bauchladen voller Bücher über den Hof: „Lande Barth, Lande Barth – ganz druckfrisch. Hier erfahren Sie auch alles über die kulturhistorische Bedeutung der Wasserburg Divitz!“. Eine Gruppe Musiker spielt mittelalterliche Weisen. Ein kleines Mädchen tanzt begeistert dazu. Ein Mann mit einem T-Shirt mit der Aufschrift „Kehrtwende“ sitzt auf einem Hocker, schüttelt den Kopf und murmelt: „Das hätte ich nicht gedacht, das hätte ich nicht gedacht.“

 

ER geht weiter. Kinder kommen ihm lachend entgegen, Laufen an ihm vorbei. Sie haben alle das gleiche süße Tanzkostüm an. Jeden Moment ist ihr Auftritt auf dem Hof. Beim Vorbeilaufen ist eine Klette an seiner Jacke hängen geblieben. Schmunzelnd lässt ER sie einfach dran. ER geht einen langen, gut beleuchteten Flur entlang. An seinen Wänden hängen Bilder der Wasserbug Divitz aus den vielen Jahrhunderten, auch wie die ersten deutschen Kolonisatoren im 13. Jahrhundert mit dem Bau ihres Wohnturms begannen. 

Rechts geht ein weiterer Flur ab. Auf einem Hinweisschild steht: „ Zu den Seminarräumen“. Links kommen die Besucher zur Ausstellung „Historische Kulturgüter in Mecklenburg-Vorpommern“. ER schmunzelt. Dann geht ER gerade aus: „Zum Festsaal“. 

 

ER muss die gewaltige barocke Tür nicht öffnen – sie wird im geöffnet. Was für ein prächtiger Saal! Was für ein prunkvoller Kronleuchter! Die großartigen Porträts historischer Persönlichkeiten ... ER kommt aus dem Staunen nicht mehr raus. 

Als sein Blick sich auf die lange Tafel inmitten des Saales richtet, läuft ihm ein Schauer über den Rücken. Am vollbesetzen Tisch sitzen sie alle, die Eigentümer der Burg über all die Jahrhunderte: die Ritter von Divitz, die Familie von Krakewitz, die Familie von Moltke, die Familie von Vitzen,  Johannes von Lilienstedt, die von Krassows und die von der Groeben. Sie alle sehen ihn an, stehen auf und heben ihre Trinkbecher. Ein Herr, der prunkvoller als alle anderen gekleidet ist, löst sich von der Tischrunde und kommt auf ihn zu. Es ist der Herzog von Pommern Bogislaw XIV. „Wir möchten uns bei Ihnen bedanken. Dafür bedanken, dass Sie und Ihre Mitstreiter unsere Arbeit, die wir über viele Jahrhunderte in dieses prachtvolle Gebäude gesteckt haben, so erfolgreich geschützt, wieder aufgebaut und damit der Nachwelt erhalten haben. Ein Denkmal von nationaler Bedeutung“. Alle Anwesenden heben ihre Trinkbecher und prosten ihm zu. 

 

Dann nimmt das Licht ab.

 

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