Verhör mit einem „Flüchtling“

Wasserstandsmeldungen aus einer niemals untergehenden Stadt

 

 

Ich sitze in einem dunklen kahlen Raum. Nur eine schwache Neonlampe an der Decke erhellt den leeren Tisch.

 

Eine Stimme: Du bist also aus Barth weggezogen?

 

Ja, antworte ich.

 

Eine andere Stimme aus dem Hintergrund: Warum?

 

Vor allem aus persönlichen Gründen. Manchmal verändern sich die Lebenssituationen. Um sich daran anzupassen, müssen die verschiedensten Parameter bedacht und gegeneinander abgewogen werden. Solche Entscheidungen sind nie einfach und niemals schwarz oder weiß. 

 

Ungeduldig schnell: Aber Du bist doch erst nach Barth gezogen ...

 

Das war 2014. Auch dieser Umzug war vor allem aus persönlichen Gründen.

 

Eine vierte Stimme (ruhiger, wärmer): Warum bist Du denn gerade nach Barth gezogen?

 

Ich habe vor allem eine nicht allzu kleine, alternative und dennoch bezahlbare Wohnung gesucht. Die habe ich nur in Barth gefunden. Außerdem bot man mir im Haus noch die Möglichkeit, mich kreativ zu betätigen. Mein Arbeitsweg zur Halbinsel verkürzte  sich immens und zum Strand konnte ich mit dem Fahrrad radeln. Auf die Menschen in Barth freute ich mich.

 

Die erste Stimme (streng, männlich): Wie ist es Dir in Barth ergangen?

 

Gut. Ich habe mir die Wohnung schön eingerichtet. Darauf bin ich jetzt noch sehr stolz. Mit dem 42und ... habe ich einen kleinen Kulturclub  geschaffen, der für mich zu einem Begegnungsort mit den Barthern wurde. Ich habe dort fotografiert, Veranstaltungen angeboten und auch Übernachtungen waren möglich.

 

Und die Menschen (die ungeduldige, weibliche Stimme)?

 

Naja, das war für mich eine persönliche Herausforderung.

 

Aufregung, Stimmengewirr. Wie viele Leute stehen oder sitzen da vor mir?   

 

Naja, man erzählt sich, dass die Menschen in Barth irgendwie „anders“ sind ...

 

Es haut jemand mit der flachen Hand auf den Tisch ...Das gibt es doch nicht!

 

Ich habe gedacht, da passe ich doch gut dazu. Und da ich kein Everybodys-Darling bin, nehme ich das mal als charakterliche Herausforderung für mich an und gucke, wie ich mit den Barthern klarkomme. Das 42und ... sollte mit dabei helfen, als eine Art Scharnier zwischen mir und den Einheimischen.

 

Stille, kein Ton, keiner fragt was.

 

Also – ich saß auch allein im 42und ... Keiner kam ...

 

Es räuspert sich jemand. Ein älterer Herr?

 

Dann kamen Interessierte. Zugezogene.  Auch immer mehr Barther. Also, Schilfgraben-Barther, wie ich sie nenne. Ich habe Barther proträtiert, Veranstaltungen waren ausverkauft. Eine Firma hat sogar eine Weihnachtsfeier im 42und ...  abgehalten. Es war eine tolle Zeit. Dann kam Corona. Ich konnte das 42und ... nicht mehr halten. Es war ja nicht gedacht, um Profit zu erwirtschaften. Die wirtschaftliche Situation hat sich für mich zusätzlich verschlechtert. Persönlich gab es auch Veränderungen ...

 

Leises Stöhnen.

 

Wie denkst Du über Deine Barth-Zeit?

 

Es waren immerhin siebeneinhalb Jahre. Ich ziehe eigentlich immer in solchen Abständen um. Das ist kein Hobby, es hat sich einfach immer so ergeben. Barth ist die Lebensstation in meinem Leben, in der ich mich am meisten sozialisiert habe. Ich habe viele nette Leute  aus allen möglichen Bereichen kennengelernt. Wie das eben so ist in einer Kleinstadt, wenn man auf die Menschen zugeht. Man muss nicht gleich verzweifeln, wenn der erste Versuch nicht gelingt. Nochmal probieren, lächeln dabei und dann klappt das schon. Man lernt dann spannende Menschen mit ihren Geschichten kennen. Sowohl Ur-Barther mit ihrem Traditionsbewusstsein als auch Zugezogene aus der ganzen Republik mit ihrer Sehnsucht nach Normalität.

 

Was (ich höre das Lächeln in der Frage)?

 

Ja, wenn ich solche Zugezogenen frage, warum sie nach Barth gekommen sind, dann antworten sie: Hier leben normale Menschen!

 

Gut gelaunt: Wusstet Ihr eigentlich, das sehr sehr viele alte Barther, die das öffentliche Geschehen der Stadt mitbestimmen, gar nicht aus Barth sind? Das sind zum Beispiel ...

 

Aufregung. Stimmengewirr: Das sind alles Barther!

 

Die Aufregung legt sich: Kannst Du uns ein kurzes Fazit Deiner Barth-Zeit geben?

 

Barth ist eine sehr liebenswerte kleine Stadt. Eine Stadt, die mächtig unterschätzt wird. In allem. Für Menschen, die sich nach einem authentischen Leben sehnen, ist hier genau der richtige Ort zum Leben. Barth hat eine spannende Zukunft vor sich.

 

Und Deine Arbeit für Barth?

 

Ich grinse: Hängt nicht davon ab, wo ich schlafe. Wenn ich von meinem jetzigen Wohnort nach Barth fahre, dann ist es vielleicht so, als ob ich in Rostock  von einem Stadtteil in den anderen fahre. Ihr hört und lest also von mir ...

 

Jetzt geht das Licht an. Der ganze Raum vor mir ist gefüllt mit Barthern. Sie haben freundliche Gesichter: Der Große, die Kleine, die mit dem Dutt, der mit den Knopfaugen, die Verkäuferinnen, die Buchhändlerin, der Museumsdirektor, der Unternehmenschef (mit Fotoapparat vor dem Bauch), der Pensionschef, der Granitz-Chef nebst „HerrBrummer“-Frau, die Frau vom Bibelzentrum,  der Häschtäkfotografierfix, der Swatte Haase, der Telefonverkäufer, die schöne Nachbarin mit ihren tollen Kiddis, der Starfußballtrainer, sogar der knorrige Yachtmensch (guckt sauer), der Windjammermann, die Info-Damen, die Fischer nebst Fischbröööötchenverkäuferin,  die afrikanische Bardame, die Blumenverkäuferin, die Norddeutsche, die freundliche gute Geistfrau vom Theater, die weibliche Weltmeisterin im Theaterspielen, Inge, noch eine Schauspielerin und noch eine ..., eine Hafendelegation, die Archivfrau, der Discoman, die Ostbeauftragte der Nachwendekinder, der Hausmeister, mein einziges Barther Aktmodel, Egbert und Barbara...!

 

Sie alle lachen fröhlich und halten ein Sektglas in der Hand. Der Große gibt mir auch eins.

 

Sag was!

 

Danke, sag ich!

 

Dann öffnet sich hinter mir die Wand und ein großer beleuchteter Saal gibt viel Platz frei. Coole Musik dröhnt und der Discoman kichert natürlich ganz aufgeregt.

 

Wir alle gehen hinein und von der Decke schwebt: „Hurra 2022“ auf uns herab.

 

 

Also, weiter geht  es ..., sage ich noch. 

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